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Fallbericht: Organisation, Konflikte und Burnout

Ausgangslage: Kurze Zeit nach seiner erfolgreichen Prüfung zum Bilanzbuchhalter und einer mehrjährigen Berufserfahrung als Buchhalter wechselte Herr Neu seine Arbeitsstelle. Sein Ziel dabei war; seine neu erworbenen Fähigkeiten für sich und das Unternehmen gewinnbringend umzusetzen - den nächste Karriereziel anzustreben. Die Buchhaltung seines neuen Unternehmens war mit sechs Mitarbeiterinnen und einem Abteilungsleiter besetzt. Wie sich herausstellte, wurde seinem direkten Vorgesetzten - dem Abteilungsleiter der Buchhaltung, dem auch der ganze Finanzbereich zugeordnet war - bereits vor seiner Einstellung gekündigt und war für die restliche Zeit freige-stellt. Ein neuer Abteilungsleiter wurde vorerst nicht eingestellt, da die Geschäftsleitung eine Umstrukturierung bzw. eine Umwandlung in eine Aktiengesellschaft des Unternehmens plante. Während der Übergangszeit oblag einem externen Wirtschaftsprüfer - sofern dieser anwesend war - informell die Leitung der Finanzbuchhaltung.

Aufgrund seiner Motivation und seiner Fähigkeiten übernahm Herr Neu binnen kurzer Zeit einen wesentlichen Teil der in der Buchhaltung anfallenden verantwortungsvollen Arbeiten. Die eigenverantwortliche Arbeit machte ihm viel Spaß und die Zusam-menarbeit mit dem externen Wirtschaftsprüfer und den Kolleginnen war gut. Vom Wirtschaftsprüfer wurde er vor den anderen Kolleginnen und zu deren Missfallen des öfteren scherzhaft als „Capo“ bezeichnet. In den Monaten Januar bis April kamen zur normalen Arbeit noch die jährlichen Abschlussarbeiten hinzu. Während dieser Zeit hatte er einen durchschnittlichen Arbeitstag von 14 Stunden. Zusätzlich musste er an den Wochenenden bei der zu klein dimensionierten EDV-Anlage regelmäßig vorbeischauen und Buchungen durchführen lassen. Ein vorsichtiger Versuch, die Arbeit auf alle Mitglieder zu verteilen, wurde von diesen jedoch mit den unterschiedlichsten Begründungen abgelehnt. In den folgenden Wochen versuchte er mehrmals die gesamte Arbeit neu zu verteilen. Mit jedem Versuch von ihm wurde jedoch die Bereitschaft ihrer Kolleginnen dazu immer geringer Eine Aussprache mit dem Geschäftsführer führte zu keinem konkreten Ergebnis. Stattdessen wurde er auf die Zeit nach der Umwandlung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft, die voraussichtlich in zwei Jahren stattfinden sollte, vertröstet. Eines Tages, als für ihn die Belastung nicht mehr erträglich war; erlitt er einen Nervenzusammenbruch und wurde aufgrund von Burnout für 14 Tage krank geschrieben.

 

 

 

Organisationsberater Dr. Piel

Systemisches Konfliktmanagement

Herr Neu kommt neu in eine „gewachsene“ Arbeitsgruppe und macht seine Aufgaben hierarchisch gleichgestellt. Der (externe) Wirtschaftsprüfer verfolgt eigene Prioritäten und ist vor allem am Geschäftsabschluss interessiert. Aufgrund der persönlichen und beruflichen Fähigkeiten erscheint ihm Herr Neu die geeignete Person für die Erledi-gung wichtiger Aufgaben zu sein. Auf der anderen Seite beachtet Herr Neu zu wenig die informellen Gruppenstrukturen - oder es bleibt Herrn Neu kaum Zeit, sich in die gewachsenen Strukturen einzubringen. Konflikte zwischen den Alten und dem Neuen sind vorprogrammiert. Die einen - man kann auch bei der anderen anfangen; das ist bei zirkulären Strukturen willkürlich - fühlen sich übergangen und schieben anste-hende Arbeit auf die lange Bank. Herr Neu, der die Absichten seiner Kolleginnen schnell erkannt zu haben glaubt, wird langsam nervös. Wenn die Aufgaben nicht termingerecht erledigt werden, dann kriegen nicht nur die anderen eins auf die Mütze, sondern die ganze Abteilung. Und ich, der ich mich besonders für die korrekte Erle-digung zuständig fühle und auch vom Wirtschaftsprüfer als zuständig angesehen werde, werde dann zum „Prügelknaben“. Da nun Herr Neu ein friedliebender Mensch ist und das Betriebsklima nicht gefährden will, tut nun genau das, was er in solchen Fällen schon getan hat, er macht es nämlich gleich selbst. Die anderen beobachten dies mit Argwohn und fühlen sich in ihrem Vorurteil bestätigt: Herr Neu steckt seine Nase überall hinein und spielt sich als die Abteilungsleiter auf ... . Sie fühlen sich übergangen und sind verärgert. Aber auch die Kolleginnen sind friedliebende Men-schen und wollen das Betriebsklima nicht gefährden. Was jedoch bleibt, ist ein Ge-fühl, kaltgestellt und durch den Neuen degradiert worden zu sein. Trotzige Reaktio-nen bleiben daher nicht aus. Dann mach Deine Arbeit doch gleich alleine, heißt die Devise. Sie lassen manches unerledigt liegen, ... Diese Beziehungsdynamik enthält viel Sprengstoff. Da es sich im obigen Fall nur um friedliebende Menschen handelt und diese sich nicht gegenseitig an den Kragen gehen, wurde dieser Teufelskreis für zwei Wochen erst einmal dadurch durchbrochen, das Herr Neu für diese Zeit mit der Diagnose Burnout krankgeschrieben worden ist.

 

Eine Interaktionsanalyse soll dabei helfen, die Dynamik zu durchschauen, jeder Beteiligten klar zu machen, was sie davon hat, worunter sie leidet und wie sie sich nach Kräften an der Aufrechterhaltung der Dynamik beteiligt. Die folgende Abbildung macht den Sachverhalt deutlich:

Konfliktspirale

Wie aus der Abbildung hervorgeht, stellen sich für einen Organisationsberater erst einmal drei Fragen:

1. Was hat wer davon?
2. Wer leidet worunter?
3. Welchen Betrag leistet jeder zur Aufrechterhaltung des Konflikts?

 

Die Beantwortung dieser Frage soll mithilfe folgender Tabelle geschehen:

wer leidet worunter?

 

Wie die Interaktionsanalyse zeigt, hat jeder seinen Anteil an der Entstehung und vor allem aber an der Aufrechterhaltung des Konflikts. Ich darf freimütig hinzufügen, dass dies völlig normal ist. Ähnlich gelagerte Fälle kommen häufiger vor, als man gemeinhin denkt:

Jemand identifiziert sich besonders mit der gemeinsamen Aufgabe und hält bereits nach kurzer Zeit die Fäden in der Hand. Die Kollegen freuen sich erst einmal über dessen Kompetenz und bestätigen unbewusst seine Führungsrolle. Allmählich wird es der Führungsperson jedoch zu viel und dieser beklagt das Konsumentenverhalten seiner KollegInnen. Diese zeigen sich anfänglich auch einsichtig und versprechen Besserung. Nachlässigkeit, teils auch mangelnde Übung der Kollegen macht sich schnell bei der Aufgabenerfüllung bemerkbar. So muss der Chef die Arbeit nochmals durchsehen und korrigieren. Ihm platzt der Kragen: Ich bin doch nicht Euer Dienstbote! schreit er. Doch er ist es längst geworden. Die Untergebenen fühlen sich zwar unterdrückt, lassen sich jedoch genüsslich bedienen. Der Chef hat zwar das Sagen, ist aber längst zum Sklaven geworden.

Wie die Interaktionsanalyse des Falles Herr Neu zeigt, hat auch das vermeintliche Opfer, Herr Neu, seine Anteile an den Ursachen. Es geht aber nicht um eine Schuldfrage - dazu bedarf es eines moralischen Konstrukts. Damit kann ein Organisationspsychologe und jeder, der zur einvernehmlichen Lösung etwas beitragen will, nicht viel anfangen. Für einen Organisationspsychologen geht es vielmehr um die Frage, welches Verhalten sachdienlich also funktional im Sinne des Unternehmens einschließlich der Mitarbeiter ist.

Durch die Interaktionsanalyse hat der Organisationsberater (erst einmal für sich) den ersten und wesentlichen Schritt zur Lösung bereits getan. Der zweite Schritt besteht darin, alle Beteiligten zusammen zu bringen, und eine emotional stabile Gesprächsgrundlage zu schaffen. Es ist daher in diesem Fall - zumal hier den Beteiligten keine Absicht unterstellt werden muss - wichtig, dass der angestaute Groll und die gegenseitigen Vorwürfen zum ersten Diskussionspunkt gemacht werden. Danach ist der Weg frei, für die Klärung eigener Reaktionen und der gemeinsam erzeugten Konflikt-spirale. Nicht zuletzt sind organisatorische Nebenbedingungen zu beachten und in eine Organisationsentwicklung mit einzubringen. Aus der Interaktionsanalyse ergeben sich dann sinnvolle Lösungsansätze. Ein Ansatzpunkt in diesem Fall bestünde darin, Aufgaben- und Verantwortungsbereiche zu definieren, zumal beide Konfliktparteien darunter leiden. Dies kann mit Unterstützung der Arbeitsgruppe, einen Organisationsberater und/oder durch die Geschäftsleitung gemacht werden

Sicher haben Sie sich als Leser schon gefragt, wie dieser Fall wohl weitergeht.

Nach seiner Rückkehr wurde er zum Geschäftsführer gerufen, wo sich auch der externe Wirtschaftsprüfer gerade befand, und es wurde ihm ab sofort die kommissarische Leitung der Finanzbuchhaltung übertragen. Zusätzlich wurden die Aufgaben aus psychologischer und betriebswirtschaftlicher Sicht neu organisiert und die Zusammenarbeit danach ausgerichtet. Herr Neu leitete diese Abteilung auch zur Zufriedenheit seiner MitarbeiterInnen, bis er im gleichen Unternehmen die Position des Controllers übernahm.

Dieser Fall zeigt, Organisation oder besser eine psychologisch ungünstige Organisation ist eine wesentliche Ursache für Konflikte und zuweilen für Burnout. Konflikte entstehen hier, wie in vielen anderen Fällen auch - nicht aus böswilliger Absicht und meistens sogar unbewusst. Meistens haben Konflikte - wie in diesem Falle auch - mehrere Ursachen. In diesem Fall liegen die Ursachen einerseits in der spezifischen Gruppenkonstellation als auch in der mangelnden Aufgaben- und Kompetenzdefinition als Führungsdefizit begründet. Die Geschäftsleitung hat lange Zeit ihre Führungsaufgaben und ihre Fürsorgepflichten vernachlässigt. Die Lösung des Konfliktes erfolgte hier nicht durch die Konfliktparteien selbst, sondern durch die Geschäftsleitung. Nach Würdigung aller Fakten hätte theoretisch auch eine Lösung durch die Belegschaft selbst - wenn auch nicht ohne neutralem Organisationsberater - erfolgen können. Das dem so ist, beweist indirekt die Tatsache, dass Herr Neu nach Klärung der Kompetenzen die Finanzbuchhaltung zur Zufriedenheit aller Beteiligten geführt hat. Der Konflikt war noch nicht soweit fortgeschritten (Stufe eins der zweiten Hauptphase, vgl. Phasenmodell), dass dies durch die Beteiligten selbst nicht auch geschehen hätte können.

Ich habe absichtlich einen wenig dramatischen Fall gewählt, nicht nur deshalb, weil sie die Mehrzahl im Arbeitsleben darstellen, sondern um zu zeigen, dass Konflikte frühzeitig ohne größeren Aufwand lösbar ist. Damit soll natürlich nicht verschwiegen werden, dass Resultate ungünstiger Organisation nicht nur Konflikte, sondern in vielen Fällen Arbeitsunfähigkeit, Frühverrentung und leider hin und wieder mit Freitod enden. Nach Vermutungen der Arbeitsgruppe um Leymann sind ca. 6% der Suizide auf Konflikte am Arbeitsplatz zurückzuführen.

 

 

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